Um den immer häufiger werdenden Antibiotika-Resistenzen etwas entgegensetzen zu können, wird überall auf der Welt nach neuen Wirkstoffen gesucht: Exotische Pflanzen und Tiere werden unter die Lupe genommen, in der Tiefsee und in entlegenen Höhlen der Mikrokosmos durchforstet. Ein Team rund um die Forscherin Cassandra Quave forscht in der Vergangenheit. In der traditionellen italienischen Medizin stießen sie auf einen Sud aus Blättern der Edel- oder Esskastanie (Castanea sativa), mit denen vor allem in ländlichen Regionen Verbrennungen, Ausschläge und infizierte Wunden behandelt wurden. Wissenschaftlich unter die Lupe genommen zeigt sich, dass die Inhaltsstoffe der Kastanienblätter das Potenzial haben könnten, vielleicht einmal das Arsenal der Medikamente gegen Bakterien zu erweitern.
Die Bakterien werden nicht getötet, sondern „entwaffnet“
Der aus den Kastanienblättern gewonnene Extrakt wirkt anders als bisherige Antibiotika. Er tötet die Bakterien nicht ab und hemmt auch nicht ihr Wachstum – stattdessen scheint die Substanz die Bakterien „mundtot“ zu machen und daran zu hindern, miteinander zu kommunizieren. Dadurch können die Bakterien keine Giftstoffe produzieren, die das Gewebe schädigen – was eine Infektion deutlich harmloser macht. Der große Vorteil dabei: Da weder Wachstum noch Überleben der Bakterien durch die Substanz beeinträchtigt werden, bilden sie keine Resistenzen gegen den Wirkstoff aus.
Die Erforschung der Kastanienblätter läuft schon seit einigen Jahren
Die ersten Ergebnisse der Forschergruppe veröffentlichten sie 2015. Damals war noch nicht klar, welcher Stoff der Kastanienblätter für die Bekämpfung der Bakterien verantwortlich war. 94 chemische Inhaltsstoffe waren identifiziert, überwiegend Bitterstoffe (Saponine). Versuche mit Mäusen zeigten das Potenzial des Extraktes: Laut der Veröffentlichung reichte eine geringe Dosis aus, um mit Methicillin-resistenten Staphylococcus aureus Bakterien (MRSA) infizierte Wunden zu heilen. Die Bakterien waren nicht mehr in der Lage, Giftstoffe zu produzieren und so ihre Infektionskraft zu erhöhen. Im Experiment mit menschlichen Hautzellen konnte die Forschergruppe nach eigenen Angaben außerdem zeigen, dass die auf der Haut lebenden „guten“ Mikroben durch das Extrakt aus den Kastanienblätter nicht geschädigt werden.
Das wirksame Molekül
In den letzten Jahren stand im Fokus, die einzelnen Inhaltsstoffe des Extraktes auf die wirksamsten Bestandteile hin zu untersuchen und diese dann zu isolieren. In den Fokus geriet Castaneroxy A, ein bis dahin unbekanntes Molekül, das nur 0,0019 Prozent der Kastanienblätter ausmacht. Die Forschergruppe hat 2021 eine Studie veröffentlicht, in der sie die Ergebnisse der ersten Wirkstofftests präsentierte. Laut der Forscher heilten offene, mit MRSA infizierte Wunden bei Mäusen unter der Behandlung mit Castaneroxy A gut ab, während die Wunden sich bei der unbehandelten Kontrollgruppe stark entzündeten. Wie das Extrakt wurde auch der reine Wirkstoff an menschlichen Hautzellen auf seine Verträglichkeit hin untersucht: Die therapeutisch wirksame Dosis scheint laut der Wissenschaftler unbedenklich zu sein, in deutlich zu hohen Dosierungen wirkt sich Castaneroxy A jedoch negativ auf die Hautzellen aus.
Eine neue Strategie zur Bekämpfung von (resistenten) Bakterien?
Vieles ist bislang unklar und noch muss Castaneroxy A sich in weiteren Studien beweisen. Doch wenn die Substanz tatsächlich so wirkt wie vermutet, könnte der Medizin in Zukunft eine neue Methode im Kampf gegen MRSA zur Verfügung stehen. Die Bakterien werden zwar nicht getötet, aber so geschwächt, dass das Immunsystem oder Antibiotika in der Lage sind, die Infektion zu bekämpfen.
Noch ist jedoch völlig offen, ob der Wirkstoff aus den Kastanienblättern tatsächlich das Potenzial hat, das die Forscher ihm zuschreiben und einen Vorteil bietet, der die Risiken überwiegt.